Mittwoch, 7. Oktober 2015

Brauchbare Illegalität und Agilität

Bild: Pixabay/Foto-Rabe - Lizenz

Zu den in meinem Bekanntenkreis am meisten diskutierten Artikeln der letzten Tage gehört Nützliche Kriminalität aus der letzten Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Die beiden Autoren, Rainer Hank und Georg Meck, versuchen den VW-Abgasskandal von einer neuen Seite zu betrachten und führen ihn auf ein Systemversagen innerhalb des Konzerns zurück. Demnach könnte es so gewesen sein, dass Mitarbeiter gegen die Abgasvorschriften verstießen weil sie glaubten, dem Unternehmen nützlich sein zu können indem sie Abläufe verkürzten und so Geld sparten. Hank und Meck berufen sich dabei ausdrücklich auf Niklas Luhmann, der diese Gedanken vorformuliert haben soll.

Nun fürchte ich, dass die beiden Luhmann entweder missverstanden haben oder dass ihr Artikel von der Redaktion zusammengekürzt wurde, denn in seinem Werk Funktionen und Folgen formaler Organisation ist dieses Phänomen der brauchbaren Illegalität1 etwas weitreichender dargestellt. Es tritt demnach vor allem dort auf, wo die Anweisungen des Managements an die Mitarbeiter in sich so widersprüchlich sind, dass sie gar nicht erfüllt werden können. Da die Nichterfüllung aber mit Strafe verbunden ist, greifen die Mitarbeiter praktisch in Notwehr zu unerlaubten Methoden um die Ziele doch zu erreichen. Da das zumindest auf der Ausführungsebene allgemein bekannt ist, entsteht etwas, was Luhmann die informelle Organisation nennt, praktisch ein Geheimbund, der ein nicht (mehr) funktionsfähiges System durch Regelverstöße und darauf aufbauende (Schein)Erfolge am Leben hält. Genau das könnte bei VW passiert sein.2

Zurück zu meinem Bekanntenkreis. Was dort auf allgemeinen Unglauben gestoßen ist, ist die Möglichkeit, dass das Management tatsächlich in sich widersprüchliche Befehle geben könnte. Warum sollte es das tun, oder bei anderer Auslegung - wie könnte es sein, dass es diese Widersprüchlichkeit selbst nicht bemerkt? Die Antwort darauf liegt wieder bei Luhmann selbst. Er sieht diese Widersprüchlichkeit als Folge des Anpassungsdrucks, den eine sich ständig ändernde Umgebung (z.B. durch neue Umweltvorschriften) auf ein zu Beginn noch funktionierendes System ausübt. Ursprünglich sinnvolle Vorgehensweisen funktionieren plötzlich nicht mehr, was das Management aber nicht nachvollziehen kann (warum soll heute falsch sein was gestern richtig war?). Es erwartet weiterhin, dass die "bewährten" Methoden die gleichen Ergebnisse bringen wie früher und zwingt die Mitarbeiter so in die oben genannten informellen, bzw. illegalen Verhaltensweisen.

Was das alles mit Agilität zu tun hat? Nun, mit ihr kann man die Wahrscheinlichkeit, dass diese Situation überhaupt entsteht, deutlich herabsetzen. Die agilen Methoden gehen in ihren Grundannahmen davon aus, dass sich Umgebungsfaktoren regelmässig ändern und dass man beweglich (agil) darauf reagieren muss wenn man erfolgreich sein will. Ein regelmässiges Inspect and Adapt sorgt deshalb frühzeitig dafür, dass sich Organisationen und Erwartungshaltungen den geänderten Rahmenbedingungen anpassen. Infolgedessen versucht das Management nicht mehr die aktuellen Probleme mit überholten Methoden zu lösen, seine Anweisungen sind nicht mehr (oder zumindest weniger) widersprüchlich und die Mitarbeiter werden nicht mehr in informelle Strukturen und brauchbare Illegalität getrieben.

So hätte es sein können. Aber im Fall VW ist es für derartige Überlegungen wohl zu spät.


1Dass in dem Artikel von Nützlicher Kriminalität und Nützlicher Illegalität die Rede ist, dürfte Folge einer fehlerhaften Rückübersetzung aus dem Englischen sein.
2Gemeint ist damit an dieser Stelle nicht der Gesamtkonzern sondern die für die Abgaswerte zuständige Entwicklungsabteilung.

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