Dienstag, 9. Februar 2016

Handeln in Unbestimmtheit und Komplexität

Bild: Flickr/Image Catalog - CC0 1.0
Zu den Artikeln die in den letzten Tagen (Alaaf!) in meiner Timeline auftauchten gehörte auch dieser hier von Christian Jakubetz, der an meiner alten Universität Journalisten ausbildet. Verkürzt gesagt schreibt er, dass das, was seine Studenten dort lernen, ihnen im Berufsleben nicht viel bringen wird. Angeregt davon habe ich überlegt, welcher Lehrstoff aus meinem Studium wohl Bezug zu meiner Arbeit hat. Als Quereinsteiger aus den Geisteswissenschaften bin ich eigentlich davon ausgegangen gar nichts zu finden, aber tatsächlich war da doch etwas: in einem Psychologieseminar (Vertiefung Organisationspsychologie) ging es ca im Jahr 2001 um fast genau das was ich auch heute mache - das Managen komplexer Situationen. Der Titel: Über Fehler und deren Ursachen beim Handeln in Unbestimmtheit und Komplexität.

Der Dozent, Dr. Harald Schaub (mittlerweile Professor Schaub), begann wie in der Wissenschaft üblich und definierte zuerst die Merkmale unbestimmter und komplexer Situationen, um von dieser Grundlage aus fortzufahren. Merkmale laut Schaub waren:
  • Vielzahl der Faktoren - es gibt nicht nur eine Ursache und Auswirkung sondern viele
  • Vernetztheit - die vielen Ursachen und Auswirkungen beeinflussen sich gegenseitig
  • Eigendynamik - selbst wenn man nichts tut entwickelt die Situation sich weiter
  • Intransparenz - Ursachen, Auswirkungen und Entwicklungen sind nicht immer klar zu erkennen
  • Polythelie ("Vielzieligkeit") - es gibt nicht nur ein Ziel auf das man hinarbeitet, sondern mehrere, die sich auch widersprechen können
  • Zieloffenheit - es ist nicht ganz klar wo man hinwill, oft sind nur ungefähre Vorstellungen wie "leistungsfähiger" oder "schneller" vorhanden
  • Neuartigkeit - da man noch nie in einer solchen Lage war gibt es kaum nutzbare Erfahrungswerte

In dieser Situation gäbe es zwar naheliegende und zielführende Vorgehensweisen, als schwache Wesen verfallen die Menschen allerdings häufig in Fehlverhalten. Auch von denen nannte Schaub einige:
  • Methodismus - ein (früher erfolgreiches) Vorgehen wird in jeder Situation angewandt
  • Unrealistischer Planungsoptimismus - ausgehend vom günstigsten Verlauf wird weit in die Zukunft geplant, was selten realistisch ist
  • Thematisches Vagabundieren - es wird immer nur zum aktuell dringendsten Thema gesprungen und keines wird bis zum Ende abgearbeitet
  • Ballistisches Entscheidungsverhalten - Entscheidungen werden so getroffen, dass (analog zu einem abgefeuerten Projektil) Kurskorrekturen nicht mehr möglich sind
  • Einkapselung - die Komplexität wird (scheinbar) dadurch reduziert, dass man bestimmte Aspekte einfach ausblendet
  • Dogmatische Verschanzung - "Es kann nicht sein was nicht sein darf", bzw. die Wahrnehmung der echten Welt wird dem Modell einer wünschenswerten Welt untergeordnet

In einem dritten Schritt erfolgt jetzt die Auflistung möglicher Gegenmaßnahmen, die sowohl bei der Bewältigung der Komplexität als auch bei der Vermeidung von Fehlverhalten helfen sollen:
  • Zielbildung und Zielelaboration - was genau will ich, und bei widersprüchlichen Teilzielen: welches davon ist wichtiger?
  • Absichtsauswahl und Schwerpunktbildung - was sind die wichtigen Teilziele und was muss ich wann für sie tun?
  • Informationssammlung - nicht nur vor dem Beginn des Vorhabens sondern auch ständig während der Durchführung
  • Informationsintegration und Modellbildung - welche Auswirkungen, Nebenwirkungen und Fernwirkungen haben die aktuellen Entwicklungen?
  • Prognose und Extrapolation - nicht nur ein (gewünschtes) Ergebnis sondern alle theoretisch möglichen Ergebnisse sollten berücksichtigt werden
  • Planen und Entscheiden - welchen Weg durch das "Labyrinth der Möglichkeiten" nehme ich mir vor?
  • Umsetzung der Entscheidungen - welche Handlungen zu welchem Zeitpunkt muss ich umsetzen?
  • Kontrolle und Modifikation - läuft alles wie geplant, und wenn nicht - was muss ich als Konsequenz dessen tun (und wann)?

Das alles ist jetzt ca. 15 Jahre alt und man kann es heute noch so stehen lassen. Da es sinngemäß genau das ist, was ich meinen Kunden predige, stellt sich vielleicht sogar die Frage, wieviel davon ich unbewusst aus meinem Studium übernommen habe. Was aus meinen Unterlagen nicht hervorgeht ist allerdings, ob auch damals schon ein Focus auf der Agilität lag, also darauf, Kontrolle und Modifikation möglichst schnell und unbürokratisch durchzuführen, um so Zeit und Geld zu sparen. Letztendlich dürfte das eher unwahrscheinlich sein, schließlich ist das Agile Manifest damals gerade erst verfasst worden, und der Anwendungsbereich der agilen Vorgehensweisen lag noch ausschließlich in der Softwareentwicklung. Es wäre aber interessant zu wissen ob Schaub damals schon von Scrum, XP und Kanban gehört hatte.

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