Montag, 2. Mai 2016

Cargo Cult

Das Unpraktische an Cargo Cult ist - wenn man es anderen Menschen vorwirft muss man es meistens im Anschluss erklären, weil niemand von selbst darauf kommt was genau damit gemeint ist. Und die wenigen, die den Begriff kennen verbinden damit nicht etwa ein Antipattern im (IT-)Projektmanagement, sondern Eingeborenenvölker von der Südhalbkugel der Erde. Nun ja. Letztendlich stimmt auch beides, weshalb eine Erläuterung vermutlich dort unten beginnen sollte, an den warmen Stränden der Südsee.

Über Jahrhunderte hinweg haben die Naturvölker in Amerika, Afrika und im Pazifik europäische Entdecker und Armeen für Götter gehalten. Sie erschienen aus den Weiten des Meeres (später aus der Luft), vollbrachten Wunder (Technologie, Medizin) und verteilten Kleidung, Konserven und Glasperlenschmuck aus ihrer Ladung (englisch: Cargo) als zauberhafte Geschenke. Nach ihrer Abreise versuchten die Eingeborenen sie zurückzulocken indem sie das nachbauten, was ihrer Meinung nach die Götter gerufen hatte: Landestege, Leuchttürme, Rollbahnen und Funkmasten - allerdings aus Holz und Steinen, ohne Strom. Natürlich erfolglos, neue Schiffe und Flugzeuge voller Cargo kamen nicht.

Dieses Grundmuster (man scheitert am Nachbau von etwas, dessen Aufbau und Funktionen man nicht versteht) wurde später auch in der westlichen Welt identifiziert und nach den Südseekulten benannt, namentlich Cargo Cult Science und Cargo Cult Software Programming sind in die englische Alltagssprache übergegangen. Auch in den Bereich der agilen Vorgehensweisen ist der Begriff übernommen worden, man spricht hier von Cargo Cult Scrum, Cargo Cult XP oder Cargo Cult Agile. Diese liegen jeweils dann vor wenn die Methoden lediglich imitiert werden ohne zu erkennen warum es Sinn macht sie anzuwenden (bzw. warum es Sinn gemacht hätte das zu unterlassen, auch das kommt vor).

Übliche Fälle dieser Art von Cargo Cult sind zum Einen das bloße Umbenennen bestehender Rollen und Regeln (aus dem Projektleiter wird der Scrum Master, Kapitel der Lasten- und Pflichtenhefte werden zu User Stories), zum Anderen aber auch das standardisierte Ausrollen auf alle Unternehmensteile, unabhängig davon ob das Sinn macht oder nicht. Ein Beispiel dafür wäre eine Anforderungs- oder Testmanagement-Abteilung, die plötzlich "Requirement Sprints" oder "Test Sprints" durchführt, obwohl sie in dieser Methode eigentlich gar nicht mehr als von der Entwicklung getrennte Organisationseinheit existieren dürfte.

Ähnlich wie im Fall der Eingeborenenkulte können agile oder Scrum-Cargo Cults übrigens ein erstaunliches Eigenleben entwickeln. Genau wie in der Südsee aus diesen Ursprüngen ganze Religionen entstanden sind, haben viele Unternehmen (pseudo)agile Cargo Cult-Methoden entwickelt und zum hauseigenen Standard erhoben. Und während diese Methoden von aussen genauso absurd wirken wie aus Bambus und Erde nachgebaute Flughafentürme ohne Stromanbindung, werden sie im Inneren mit heiligem Ernst befolgt. Und alle glauben ganz fest daran - wenn man sich nur daran hält, dann wird am Ende wundersamerweise alles gut.

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